ganzer Textganzer Textganzer TextPilgerreise als Metapher für den Lebensweg
Die Bedeutung des Pilgerns ist weit gefächert.
Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist ein lebendiges Symbol, eine lebendige Metapher für den menschlichen Lebensweg. Darauf weist auch die geographische Ausrichtung des Jakobusweges hin: er führt von Osten
(Sonnenaufgang, Geburt, Leben) hin zum Westen (Sonnenuntergang, Sterben, Tod). Der Weg endet am Atlantik (Ewigkeit). Im Westen befindet sich der Umkehr-Punkt, die Neu-Geburt, der Start in das neue Leben.
Diese Ausrichtung findet sich auch in vielen Kirchen. Der Chorraum ist geostet, der Ausgang führt nach Westen. Vom Osten ist das Leben (Sonne, Licht, Christus) zu erwarten. Der Hahn auf dem Turm kündet dieses Morgenlicht an. Das Licht und Leben stärkt für den Ausgang hinaus in den Alltag.
gewählte Hauslosigkeit, Fremde
Etymologisch bezieht sich das Wort pilgern auf das lateinische Verb ‚peregre‘ – über den eigenen Acker hinaus gehen. Ein Pilger bricht auf, um den eigenen ‚Acker‘, die eigene Lebenswelt zu verlassen. Die Pilgerin, der Pilger begibt sich in die Fremde. Ein mittelalterliches Pilgerlied nennt dies ‚das elend wagen‘. Der Pilger wird ab etwa dem 8.Jhdt. ‚piligrim‘ genannt, noch hörbar im englischen ‚pilgrim‘ oder in der Pilgerschaft in englischer Sprache ‚pilgrimage‘. Pilgern bekommt die Bedeutung, eine Fuss-Reise zu einer religiös verehrten Stätte zu machen – was heute eher wallfahren heisst. Die Unterscheidung von Pilgern und Wallfahren kennt nur die deutsche Sprache. In den anderen Sprachen wird ‚pilgern‘ für beide Bedeutungen verwendet.
wallfahren oder pilgern
Wallfahren wiederum bedeutet in der Tradition, gemessen schreiten, in einer Prozession feierlich dahin schreiten. Beim Pilgern ist der Weg ebenso wichtig wie das Ziel (der Weg ist das Ziel), beim Wallfahren ist das Ziel, die heilige Stätte, wichtiger als der Weg. Es geht aber nicht um ein ‚entweder – oder‘, sondern um ein ‚sowohl – als – auch‘. Marco Zanetti formulierte es so: ‚der Weg ist das Ziel erst, wenn das Ziel zum Weg wurde‘.
pilgern oder wandern
Was macht den Unterschied zwischen pilgern und wandern? Ich habe für mich die Formel gefunden: pilgern heisst wandern+ . Im Pilgern ist das Wandern inbegriffen. Das + ist der spirituell, religiöse Aspekt. Er gehört bewusst (manchmal auch unbewusst…) und explizit zum Pilgern. pilgern führt zur eigenen Mitte
Burn-Out-Prävention
Das Pilgern leistet einen Beitrag zur ganzheitlichen Gesundheit. Es hilft, den Kopf ‚auszulüften‘ und sich im wortwörtlichen Sinn neu zu ‚erden‘. Das ‚Schritt-für-Schritt Vorangehen‘, das ganz ‚Bei-Sinnen-Sein‘ in der Natur, die Reflektion und der Austausch über die gemachten Erfahrungen sind gerade dann eine Hilfe, wenn in der momentanen Lebensetappe ein eigentlicher ‚Berg‘ vor einem liegt. Das Pilgern ist im Weitesten Sinn auch eine Burn-Out-Prävention. Die Erfahrung zeigt, dass Pilgerreisen zur eigenen Mitte und zur eigenen Kraft hinführen. Manche entdecken im Pilgern zu ihrer eigenen Überraschung, wieviel Lebenskraft und Lebensfreude in ihnen schlummert.
Pilgerschaft und Abschied-Nehmen
Auf der Pilgerschaft gehört das Abschied-Nehmen zu jedem Tag. Täglich führt die Reise weiter. Panta rei! – alles fliesst! Dieses Lebensprinzip entdeckte der griechische Philosoph Heraklit beim Betrachten eines Flusses. Schon nach einem Augenblick ist der Fluss nicht mehr der Gleiche wie vorher. Der Pilgerweg zeigt durch Erfahrung auf, dass unser ganzes Leben ein ‚abschied-liches‘ Leben ist: Abschied von der Mutter bei der Geburt, von Lebensphasen, von Idealen, von befreundeten Menschen, von liebgewordenen Orten.
Todo pasa, y toda queda, pero lo nuestro es pasar, pasar haciendo caminos, caminos sobre la mar.
(Antonio Machado, Ganzer Text)
Alles vergeht, und alles bleibt, aber es ist unser (Schicksal) zu vergehen, zu vergehen, indem wir Wege gehen, Wege über das Meer.
(Übersetzung von Barbara Haab)
Das Verabschieden wird auf der Pilgerschaft täglich erlebt und durchlebt, statt wie im Alltag zuhause übertönt oder weggeschoben. Die Trauer, herstammend aus Abschied(en) und Verlusten, darf leben. Sie kann sich wandeln in Lebensenergie und sie kann ihrer Schwester, der Freude, Platz machen. Nicht zuletzt das Ende des Pilgerweges in Santiago ist ein Trauer auslösender Moment, was Viele vorerst aus Freude über das erreichte Ziel nicht erkennen. Manchmal äussert sich diese Trauer im Empfinden der Stadt Santiago als überlaufene, chaotische Massen-Stadt – das Aussen bildet das Innen ab und kann gut verwechselt werden. Dass in früheren Zeiten auch die Heimreise eine nochmals gleich lange Pilgerreise war, hatte seelisch gesehen sicher ihren Wert – diese Erfahrung des langsam dem Zuhause Annähern fehlt uns heutigen Pilgernden meist. Die Seele äussert sich deshalb nach der Ankunft zuhause bei vielen Pilgernden mit einer Krise.