Jakobsweg und Pilgerschaft als Metapher für den eigenen Lebensweg
Die Pilgerschaft auf dem Jakobsweg ist eine Metapher des menschlichen Lebensweges. Der Lebensweg ist geprägt vom Prinzip ‚Werden-Sein-Vergehen‘. Dieses ist ablesbar an der Ausrichtung des Jakobsweges: er führt von Osten nach Westen.
Osten – ex oriente lux (Licht aus dem Osten)
Im Osten geht die Sonne auf. Der Sonnenaufgang und damit der Osten ist ein Symbol für das Werden, die Geburt, für den Beginn des Lebens und für die Neugeburt. Dies gibt die lateinische Redewendung wieder: ex oriente lux – aus dem Orient kommt das Licht.
Westen
Im Westen geht die Sonne unter. Der Sonnenuntergang ist ein Symbol für das Vergehen, das Sterben und den Tod. Der Jakobsweg führt nach Santiago de Compostela und Finisterre – ans Ende der Welt – im Nordwesten von Spanien.
Geostete Kirchen
Die Ausrichtung von Ost nach West findet sich auch in den meisten Kirchen. Der Chorraum ist geostet. Von dort kommt das Leben in der Form von Sonne und Licht. Religiös gedeutet kommt aus dem Osten Christus, das göttliche Licht.
Die Hauptpforte dieser Kirchen zeigt nach Westen. So geschieht beim Betreten der Kirchen eine Bewegung vom Tod ins Leben. Nach der Neugeburt (Umwandlung) im Kirchenraum tritt der Mensch wieder in seinen Lebensweg ein, der vom Werden, Sein und Vergehen geprägt ist.
Finisterre – das Ende der Welt
Der Jakobsweg führt nach Santiago de Compostela. Von dort führt ein weiteres Wegstück rund 90 km nach Finisterre, das übersetzt ‚Ende der Welt‘ heisst. Das Cap Finisterre, galicisch Cap Fisterra, liegt am Atlantik. Dieser begrenzte die ehemalige Welt (siehe die Weltkarte des Hekatoios vor 2500 Jahren).
Diese Grenze bezeichnet den Ort von Tod und Wiedergeburt: beim Wendepunkt in Finisterre geschieht das Sterben des bisherigen Lebens hin zur Wiedergeburt, zu einem erneuertem Leben. Darauf deutet auch der Name jener Küste hin: Costa da morte (galicisch) oder ‚Costa de la Muerte‘ (spanisch), was ‚Küste des Todes‘ heisst.
Der Begriff ‚Ende der Welt‘ kommt auch in den heiligen Schriften der Christen vor. So endet das Matthäusevangelium mit der Zusage von Christus: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20)
Der Pilger, die Pilgerin beginnt von Finisterre weg in Richtung nach Hause zu gehen. Nicht selten ist damit die Hoffnung verbunden, dass sich das alltägliche Leben zuhause durch die gemachten Erfahrungen auf dem Pilgerweg erneuert.
Metapher Meer
Das Meer gilt als Urwasser, als Gebärerin und Verschlingerin des Lebens, als Ort von Geburt, Transformation und Wiedergeburt. Nach der Evolutionslehre entstand das erste Leben im Wasser. So führt es interessanterweise auch der Schöpfungsbericht in Genesis 1/ 1. Moses 1 aus.
Das Meer hat auch immer etwas Bedrohliches ausgestrahlt. Schiffe gehen unter, Menschen ertrinken in den Fluten, grosse Lebewesen gefährden die Menschen im Meer. Nicht zufällig heisst wohl darum die Küste bei Finisterre ‚costa da morte‘ – Küste des Todes.
Das Meer ist ebenfalls eine Metapher für die Unendlichkeit und die Ewigkeit. ‚Weit wie das Meer…‘ heisst der Beginn eines modernen christlichen Liedes. Es überträgt die Weite des Meeres auf die Liebe Gottes. Jedes Wasser, sei ein Bächlein oder ein Fluss endet in einem Meer. So hat Khalil Gibran formuliert: „Leben und Tod sind eins wie der Fluss und das Meer eins sind.“ Unser aller Leben geht über in die unendliche Weite.
In diesen Zusammenhängen sehe ich die Bedeutung der Jakobsmuschel. Sie ist das Ab-Zeichen für die Jakobspilgerinnen und -pilger. Die Jakobsmuschel entstammt dem Atlantik.
Weg und Wandlung
Der Jakobsweg ist für viele PilgerInnen wie ein gegebener ‚Raum‘. Beim Durchschreiten dieses Raumes erleben viele einen inneren Wandel. Manche brechen (nur) als WanderIn auf und kommen als PilgerIn nach Hause.
Vom spanischen Dichter Antonio Machado gibt es einen poetischen Text, der etwas von diesen Gedanken widergibt:
Original in spanisch
Caminante,
son tus huellas el camino,
y nada más;
caminante,
no hay camino,
se hace camino al andar.
Al andar se hace camino,
y al volver la vista atrás se ve la senda
que nunca se ha de volver a pisar.
Caminante,
no hay camino,
sino estelas en la mar.
(Antonio Machado, Poesías completas. Espasa-Calpe S.A., Madrid (12) 1969.)
Übersetzung von Barbara Haab
Wanderer,
es sind deine Spuren,
der Weg, und nichts weiter.
Wanderer, es gibt keinen Weg;
man erschafft den Weg im Gehen.
Im Gehen erschafft man den Weg,
und wenn man den Blick zurückwendet,
sieht man den Pfad,
den man nie wieder zu gehen haben wird.
Wanderer,
es gibt keinen Weg –
nur Kielspuren eines Schiffes im Meer.
(Übersetzung von Barbara Haab, in: Weg und Wandlung. Zur Spiritualität heutiger Jakobspilger und -pilgerinnen. Universitätsverlag Freiburg Schweiz. S.236)